Insel Rügen: Im Mönchgut

  • Es gibt Gegenden in Deutschland, die haben noch sehr viel an Ursprünglichkeit bewahrt, ohne rückständig oder ein Museum zu sein.


    So empfinde ich es bei jedem Besuch im Mönchgut, der südöstlichen Halbinsel der Insel Rügen.



    Es gibt historische Gründe, weshalb sich dort eine eigenständige Kultur entwickelt hat- von 1252 bis zur Reformation war das Mönchgut in Besitz des Klosters Eldena, abgetrennt vom größeren Teil von Rügen und sogar abgeschottet durch einen Graben. ( Mönchgraben bei Baabe)


    https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%B6nchgut
    https://www.ruegen-infoweb.de/moenchgut.htm


    Die Menschen dort sind stolz auf ihre Traditionen.



    So verwundert es nicht, dass im Ort Middelhagen im Ortszentrum heute noch etwas zu finden ist, was früher in vielen Dörfern zusammengehörte und immer nebeneinander stand: Kirche, Schulhaus und Gasthaus.



    Die Kirche Sankt Katharinen, ein Backsteinbau aus dem Jahr 1455




    mit dem schönen Katharinenaltar von 1480






    Daneben das Gasthaus- das älteste auf Rügen-
    Gasthaus zur Linde (auch heute noch empfehlenswert!)





    Neben der Kirche ein großes Bauernhaus (als Museum eigerichtet- derzeit im Umbau)
    Das Dach wurde gerade teilweise neu gedeckt.


    Das Rohr ( auf Rügen sagt man nicht Reet) muss ca alle 50 Jahre erneuert werden.






    Und hier das Schulhaus




    Das Gärtchen vor dem Haus



    Im Schulhaus gab es einen Raum für den Pastor und die Wohnung des Lehrers, die sich in der Einrichtung sicher von den Häusern der Fischer unterschied



    Die Küche



    Sowie das Schulzimmer für die 8 Klassen




    Ein Mal in der Woche kann man an einer historischen Schulstunde teilnehmen.


    Man zwängt sich in die engen Bänke und wartet auf „das Fräulein“.


    Als sie mit Nadelstreifenkostüm, hoch geschlossener Bluse und streng nach hinten gebundenen Haaren erschien, war Schluss mit Schwatzen.
    ( Dafür wurde mehr gelacht – alle hatten einen Riesenspaß, in die Rolle von Schulkindern zu schlüpfen.)


    Aufstehen, gemeinsamer Gruß, ein Morgenlied und dann begann der Unterricht.


    Gesundheitskunde:
    Jeder musste ein Taschentuch vorweisen ( Papiertaschentücher zählten nicht), die Fingernägel vorzeigen, Hals und Füße wurden „kontrolliert“,da gab es schon die ersten Tadel .


    Zwei kamen zu spät – zum Glück mit einer gültigen Ausrede: Die Kuh hat gekalbt ( wer ihnen das wohl gesagt hatte?)


    Immer wieder hieß es:


    Gerade sitzen
    Nicht den Kopf aufstützen
    Knie unter den Tisch


    Es wurde Lesen geübt.
    ( Das "Fräulein" achtete hartnäckig darauf, dass immer in ganzen Sätzen geantwortet wurde.


    Zum Beispiel



    Wie heißt dieses Wort?
    Ohr
    Strenger Blick
    Das Ohr
    Das ist kein Satz
    Das ist das Ohr
    Wo ist hier das Ohr
    Das heißt Ohr
    Was heißt Ohr


    Die richtige Antwort musste heißen:
    Das Wort heißt Ohr ( Die Schüler mussten immer konzentriert zuhören, wie die Frage geheißen hatte)


    Rechnen mit Pilzen und Tannen, mit roten und braunen Pilzen



    Anschauliches Lernen der einheimischen Tiere- Seeadler , Mauswiesel, Bussard, Eisvogel, Star, Schleiereule...



    Ein „Schüler“ hatte wiederholt einzelne Wörter reingerufen, ohne sich zu melden:
    10 x mit dem Stock auf den Hosenboden



    Am Schluss bekam jeder ein Zeugnis



    Mein Zeugnis war nicht hervorragend



    Vielleicht hatte ich mich nicht oft genug gemeldet.


    Aber versetzt wurde ich - wenn es nicht gewesen wäre – mein Vater hätte damals vermutlich mit einem Sack Kartoffeln, ein paar Räucherfischen oder einem Stück Speck sicher noch „nachhelfen“ können.


    So war das früher- heute hat diese historische Schulstunde wie ein Theaterstück einfach Spaß gemacht. Aber damals?


    Und es ist noch gar nicht so lange her ( Ich bin sicher, der eine oder andere hier im Forum hat noch Erinnerungen an solche Unterrichtsstunden)


    Nach einer Stunde verließen alle gutgelaunt das alte Schulhaus.


    Ich setzte meine Mönchguttour fort mit einem Besuch des rohrgedeckten „Pfarrwitwenhauses“ in Groß Zicker.



    Das Pfarrwitwenhaus war eine soziale Einrichtung für verwitwete Pfarrfrauen.


    Es war früher üblich, dass nach der damals üblichen Praxis der "Konservierung von Pfarrwitwen" nach dem Tod eines Pfarrers ein lediger Nachfolger eingesetzt wurde, der die Witwe des Vorgängers heiraten musste, um deren Versorgung zu sichern.


    So auch 1718, nachdem der Pfarrer von Groß Zicker, Johannes Cadow, gestorben war.


    In dieser Zeit hatten die Dänen auf Rügen das Sagen und der dänische König Friedrich IV. lehnte diese Vorgehensweise ab.
    Es wurde ein verheirateter Pfarrer eingesetzt und der Bau eines Wohnhauses zur Versorgung der Pfarrwitwen angeordnet.


    Bis 1810 wurde dieses Haus von Pfarrwitwen bewohnt. Danach war es Schulgebäude, Wohnung für den Lehrer und bis 1984 Wohnhaus.
    Heute ist es als Museum eingerichtet.



    Groß Zicker besitzt auch eine sehr hübsche Backsteinkirche von 1360.



    Nach der Wende wurde sie sorgfältig restauriert und ist einen Besuch wert.


    Im Inneren





    Das Sakramentshäuschen wurde aus einem einzigen Eichenstamm geschnitzt



    Die Barockkanzel



    Der große Deckenleuchter






    Von Groß Zicker kann man wunderschöne Wanderungen hinauf in de Zickerschen Berge machen (eigentlich ein Hügel, max 68m), in ein Naturschutzgebiet mit Ausblicken aufs Meer nach drei Seiten.
    Blick nach Osten auf Thiessow, in der Ferne am Horizont die kleine Insel Greifswalder Oie



    Davon in einem weiteren Bericht.


    Elke


  • Danke für diese Schulstundeneindrücke.
    Es hat Spaß bereitet es zu lesen.


    Welch eine Freude: Mit dem Pfarrwitwenhaus und der seinerzeiten Versorgung habe ich wieder etwas Neues erfahren.
    Zwangsverheiratung - na sowas!

    [COLOR="#0000CD"]Entdecke die Welt, wie einst Captain Cook, Baedeker oder Marco Polo[/COLOR]


    Carpe Diem Annette und Hartmut


    [COLOR="#008080"]Wissen schafft Wissen - jeden Tag entsteht neues Wissen![/COLOR]

  • Danke liebe Elke,


    ein ganz außergewöhnlicher Bericht. Jetzt wissen wir ja, und beneiden dich auch darum, um deine Detailgenauigkeit, aber diese Reise mit einem Ausflug in die Vergangenheit, ist schon was besonderes.


    Rügen , noch einmal etwas anderes gezeigt. Ich bin hin und weg.


    Der riesige Aufwand hat sich wahrlich gelohnt.


    Gott sei Dank hat sich bei uns auch das Wetter inzwischen was einfallen lassen, so dass der kleine "Neidfaktor" unter den Tisch fällt.


    Nochmal vielen Dank und


    lieben Gruß
    Helmut

  • Danke für deinen Hinweis, Elke:




    Auch ich habe große Wissenslücken und fühlte mich durch deine Schulstunde befleißigt, die Möglichkeit der Weiterbildung zu nutzen. :14w: Mir sind die von dir gezeigten Schiffe in den beiden Kirchen aufgefallen.





    Dererlei hatte ich schon des Öfteren gesehen und mich stets nach der Bedeutung gefragt. Lesen im www bildet: Es handelt sich um sogenannte Votivschiffe (lateinisch votivus = durch ein Gelübde versprochen), die im evangelischen Einzugsbereich als Zierde dienen und an bestimmte Personen oder Ereignisse erinnern sollen.


    Die typische Geschichte hinter einem Votivschiff ist eigentlich, dass ein Seemann sich auf hoher See in höchster Not bedfindet und Gott verspricht, ihm ein Schiff zu schenken, wenn er diese Notsituation überlebe. In der nächsten Kirche, die er erreicht, oder in seiner Heimatkirche stiftet der Mann dann tatsächlich ein solches Schiff. Dieser Brauch entstammt dem katholischen Glauben und ist rund um das Mittelmeer verbreitet gewesen. Man kann in Spanien und Portugal, Griechenland und Italien auf Votivschiffe stoßen. (Quelle: votivschiff.de)


    Hier noch das Votivschiff namens "Der milde Herbst", das wir vor zwei Jahren in der Kirche St. Clemens in Büsum entdeckt haben. Es stammt ursprünglich von der Insel Föhr und wurde im Jahr 1807 von dem damaligen Pfarrer in die Gemeinde mitgebracht.



    Danke für deine Anregung zur Weiterbildung :14w:


    Gruß,
    Klaus

  • Eine wunderbare Zeitreise, die wir mit dir unternehmen durften.


    Ich bin sicher, der eine oder andere hier im Forum hat noch Erinnerungen an solche Unterrichtsstunden


    Oh ja, zur Volksschulzeit in der ersten und zweiten Klasse stand ein Rohrstock in der Ecke. Wer nicht aufpasste, mußte die Hände ausstrecken und es gab was auf die Finger.


    In Maßen war es nicht die schlechteste Erziehungsmethode.


    Grüße
    Bernd

  • Danke, Vadda!
    Gerade für uns Süddeutsche sind solche Tradtionen fremd und besonders interessant.


    Das Votivschiff mit den roten Segeln in Groß Zicker ist neueren Datums.
    Im Dezember 2001 stiftete der Greifswalder Segler, Pastor und Buchautor Gerhard Dallmann der Kirche dieses Votivschiff, welches einen Lastensegler darstellt.


    Auf der Mönchgut Halbinsel waren die Männer meist Fischer und/oder Lotsen.
    In der Einfahrt von der Ostsee in den Greifswalder Bodden gibt es viele Sandbänke und auch viele Wracks - früher war für eine sichere Durchfahrt die Hilfe von Lotsen nötig.
    ( Mit Google Earth kann man das sehr gut erkennen)
    Mehr darüber , auch über den Lotsenturm in Thiessow , in einem späteren Bericht.


    Die Arbeit der Lotsen war nicht ungefährlich.
    Sie fuhren auf den begleiteten Schiffen mit bis Greifswald und kehrten dann meist zu Fuß in 1-2 Tagen auf das Mönchgut zurück.
    So verwundert es nicht, als Votivgabe in der Kirche von Groß Zicker diesen Radleuchter zu finden. ( s. o.)



    Er hängt im Kirchenschiff und wurde 1868 von den Thiessower Lotsen für die Kirche gestiftet. Ihre Namen sind auf dem Leuchter eingraviert.
    Ich habe versucht, ein paar Namen auf dem Leuchter etwas deutlicher zu machen.



    Gruß,
    Elke

  • hallo elke,


    danke für deinen informativen, gut bebilderten (wie machst du das eigentlich mit dem sonnigen wetter?) bericht. insbesondere die schulstunde hätte mir auch gut gefallen. allerdings befürchte ich, daß auch ich hier eine auf den hosenboden bekommen hätte. meine aufmerksamkeit galt nicht immer dem unterricht.


    die insel rügen ist jedenfalls mehr als einen tagesausflug wert. auch müssen es nicht immer die bekannten ferienorte auf der insel sein, wie dein bericht zeigt.


    ich hoffe, im nächsten oder übernächsten jahr deine berichte als anregung für meine geplante reise nach meck-pom nehmen zu können.


    grüsse


    jürgen

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