Am frühen Nachmittag waren wir losgepaddelt. Im vorderen Boot waren es vier, im hinteren mit mir fünf Leute - wobei wir nur vier Paddel pro Boot hatten, und so immer eine/r Pause machen konnte. Zeitweise, wenn das Wasser ruhig war, schmiss Ante im vorderen Boot den Aussenbordmotor an (dessen zeitweiliger Defekt die anderthalbtägige Verspätung verschuldet hatte) und nahm das hintere Boot in Schlepp.
Ausser Ante waren alle Studenten, in den Zwanzigern wie ich, wobei ich nicht mehr alle acht zusammen bekomme. Zwei oder drei Frauen waren auch dabei. Ob es Serben oder Kroaten waren (Bosniaken waren wohl keine dabei, jedenfalls hatte niemand einen muslimisch klingenden Vornamen) - keine Ahnung, das spielte keine Rolle. Ante sprach mit mir ein Gemisch aus Deutsch und Serbokroatisch (so hies die Landessprache damals offiziell), von den anderen sprachen mehrere Englisch - mit hartem slawischen Akzent. Einer hatte immer das Kommando im Boot, was bei Richtungwechseln wichtig war; ich machte als Untrainierter öfter schlapp als die andern und ich hab immer noch das Kommando im Ohr: "Stronggärr !"
Nachdem wir ein paar Stunden abwechselnd kleine Wasserfälle hinuntergehupft oder im ruhigem Wasser dem Motor gelauscht hatten, zogen wir die Boote auf einer Wiese an Land, bauten drei Zelte auf und machten Feuer. Ante schärfte mir ein, dass ich, falls Fremde kämen, im Zelt verschwinden sollte - sie würden den etwaigen Eigentümern der Wiese, auf de wir zelteten, dann erklären, sie seien eine militärische Übungsgruppe. Offensichtlich hatte damals jeder Jugoslawe das Recht, auf fremdem Grund zu kampieren, wenn er Mitglied einer Partisanenübungsgruppe war. Schliesslich hatten Titos Partisanen nach der offizellen Staatsideologie im Zweiten Weltkrieg den größten Teil des Landes befreit, deshalb, so wurde mir erzählt, fanden öfter Manöver in Zivil statt - so konnte jeder derartige Aktivitäten als Partisanenübung deklarieren. Und da passte ich als Bundesdeutscher nicht hin.
Tatsächlich kam nach kurzem ein Bauer. Ich verschwand im Zelt und konnte natürlich nur einen Bruchteil des Streitgesprächs mitbekommen, mangels Sprachverständnis. Erst war der Bauer sehr aufgebracht, ich verstand die Worte "Feuer" und "Zelt", anscheind passte ihm das Ganze nicht. Ante sprach beruhigend auf ihn ein, wir seien eine vojna grupa, eine Militärgruppe, er redete eine ganze Weile, und schliesslich klang die Stimme des Bauern versöhnlicher: "Vojna grupa - nema problema ..."
Die Verhandlungen mit dem Bauern hatten mit einer Einladung zum Frühstück im Dorf geendet, das natürlich ohne mich stattfinden musste. Ich passte derweil auf die Boote auf, die am Rand des Dorfes (das etwas höher lag als der Fluss) an Land gezogen waren. Leider hatte man vergessen, mich zu instruieren, was ich den neugierigen Kindern sagen sollte. Und so machten sie einen ziemlich misstrauischen Eindruck auf mich (und ich auf sie wohl auch), ganz im Gegensatz zu dem herzlichen Empfang in Ripac.
Mir fällt dabei ein, dass das kroatische Wort für Deutsche=njemci ähnlich wie in anderen slawischen Sprachen von nijem=stumm abgeleitet ist - und so kam ich mir auch vor.
Zum Glück dauerte das Frühstück nicht lang - die Bootsfahrer meinten hinterher, die Dörfler seien irgendwie seltsam gewesen.
Nach einigem Paddeln erreichten wir die Bezirkshauptstadt Bihac, gingen kurz an Land zwecks Einkaufen und Telefonieren (irgendjemand hatte doch einen erreichbaren Anschluss) und hüpften dann weiter über Wasserfälle. Kurz vor oder hinter Bihac suchten wir - barfuß mit kurzen Hosen - eine direkt am Fluss gelegene Raststättentoilette auf, mussten dabei quer durchs Restaurant und wurden angestarrt wie Obdachlose, die in den Speisesaal des Hilton eingefallen sind.
Danach ging's durch eine Schlucht, das war Schwerarbeit. Landschaftlich war es wunderschön, die Gegend sah ähnlich aus wie die, wo die Winntetou-Filme in den 60ern gedreht worden waren. Irgendwo an einer Höhle machten wir Rast und bekamen, als wir die Höhle betraten, einen Schreck: Lag da ein Totenschädel vor uns ?
Möglich wär's, denn im und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden öfter Opfer der Kriegsparteien in Höhlen entsorgt, wenn sie nicht - von den eigenen Leuten geborgene Partisanen zumindestens - ein Grab da bekamen, wo sie gestorben waren (an der Bahnstrecke um Bihac habe ich mehrere Gräber gesehen). Dieser hier sah allerdings nur aus wie ein Totenschädel von hinten - als wir ihn umdrehten, war's einfach ein Stein.
Abends kampierten wir auf einer Insel in der berechtigten Hoffnung, dass uns diesmal kein Bauer stören würde. Dafür kam auf der anderen Seite der Una mehrmals die Nacht ein Zug durch (im Gegensatz zu heute). das Dröhnen der schweren Diesellok wurde immer lauter und lauter, bis man das Gefühl bekam, jetzt fährt sie gleich mitten durchs Zelt.
Ausser den Güterzügen der Una-Bahn störte niemand unsere Nachtruhe.
Anderntags konnten wir nur kurze Zeit paddeln, dann stand ein Staudamm im Weg. Wir zogen die Boote an Land, und Ante organisierte einen Bauern mit Pferdefuhrwerk, der uns das Ganze 2 km flussabwärts transportierte.
Dann gings über viele Steine durch die nächste malerische Schlucht, bis das Wasser wieder ruhiger wurde und wir wieder im Schlepptau fuhren. Irgendwann fragte Ante zwei am Ufer spielende Kinder, wie weit es noch nach Bosanska Krupa sei. Die antworteten auf Deutsch:
Zwelf Kilometerr !"
Wir kamen danach zu dem Schluss, dass sie meinten, wer so verrückt ist, den Fluss auf Schlauchbooten zu befahren, kann nur aus Deutschland kommen.
In Bosanska Krupa erklärte Ante die Tour für beendet. Auf der weiteren Fahrt bis Bosanski Novi wäre der Fluss völlig ruhig und nur noch Schlepptau-Fahrt mit Motor angesagt gewesen, und das hatten wir jetzt schon mehr als "zwelf Kilometerr" hinter uns. Irgendwann kam ein Shinobus, in den wir Boote und Gepäck hineinstopften. Währenddessen feierte neben uns eine Clique junger Einheimischer mit Bier und Ziehharmonikagesag. Ante erklärte mir, einer der Leute müsse zum Militär und würde so verabschiedet. Bei uns, so antwortete ich, sei das umgekehrt. Da würde gefeiert, wenn sie das Ganze hinter sich haben.
Es folgten noch ein paar unbeschwerte Tage in Dvor, bevor ich mich wieder Richtung Heimat aufmachte. Die Zugfahrt bis zur österreichischen Grenze kostete knapp 10 DM, da lohnte das Trampen nicht. So fuhr mich Stojan in seinem alten Zastava irgendwann morgens bei Dunkelheit nach Bosanski Novi, und am Nachmittag stand ich schon am Ortsrand von Jesenice, wenige Kilometer vor der Grenze und hielt den Daumen raus.
Nach einer Stunde begann es zu regnen. Gerade rechtzeitig vor der völligen Durchfeuchtung hielt ein Renault R4 mit Münchner Nummer - ein Studentenpärchen, die nach ihrem Adria-Urlaub noch ein paar Tage ins Familienferienhaus nach Berchtesgaden wollten.
An der Grenze gab ich der Beifahrerin meinen Pass. Die blätterte drin herum und stolperte über meinen Familiennamen. "Kann es sein, dass Du in München eine Schwester hast, die G. heisst ?"
Es konnte.
Die nächsten beiden Tage verbrachte ich in Berchtesgaden.
- ENDE -