Der ehemalige Freistaat Neutral-Moresnet

  • Aachen liegt direkt am Dreiländereck - bis vor knapp 100 Jahre war es sogar ein Vierländereck, denn da gab es noch den Zwergstaat Neutral-Moresnet, von dem heut kaum noch jemand weiss, nicht mal die Leute, die in seiner ehemaligen "Hauptstadt" leben.


    Dieser vier Quadratkilometer große Staat (d.h. etwa so groß wie Helgoland) existierte von 1816 bis 1919. Auf dem Wiener Kongress, als die Territorien Europas nach dem Ende des napoleonischen Reichs neu verteilt wurden, konnten sich die Delegierten Preussens und der Niederlande über dieses mit einem großen Zinkerzvorkommen gesegnete Gebiet nicht einigen und beschlossen, es neutral zu lassen und gemeinsam zu verwalten. Es wurde zu einem kleinen Paradies für Schmuggler, Männer die keinen Bock auf Militär hatten oder Frauen, die wegen ihres unehelichen Kindes nicht so schief angeguckt werden wollten wie anderswo. Seit 1830 war der Mitherrscher nicht mehr der niederländische König, sondern der belgische, und ab 1919 wurde nicht nur der Zwergstaat, sondern auch die übrige preussisch-deutsche Umgebung Teil des belgischen Königreichs.
    Mehr dazu: https://www.tagesschau.de/ausland/neutral-moresnet-101.html


    Solche kuriosen "Gebilde", auch wenn ehemalig, interessieren mich. Die "Hauptstadt" heisst Kelmis (früher Altenberg) und liegt heute in Belgien. Meine Reise führt mich zunächst 2 Bahnstationen hinter Aachen. Der Bahnhof von Hergenrath liegt so verlassen, dass mich die Zugbegleiterin fragt, ob ich da wirklich hin will.
    Ja, nach Kelmis.



    "Kelmis - l'autobus", sagt sie und lässt den Zug abfahren.
    Ja, der Otobüs, wenn denn einer fährt. Was er nicht tut.
    Wir sind im deutschsprachigen Teil Belgiens, d.h. ich muss nicht in meinem Bröselfranzösisch nach dem Weg fragen.



    Nach Kelmis ist es eine halbe Stunde zu laufen - später, in Aachen, stell ich fest, dass von dort direkt ein Bus hingefahren wär, aber der Grizzly muss ja Bahn fahren, zumal er noch nie in einem belgischen Zug gesessen ist.




    Wo der Zwergstaat anfing, darüber gehen die Meinungen derer die ich frage auseinander. Das Museum hilft auch nicht weiter, denn es ist eine Großbaustelle. Es soll auch kein Museum bleiben, die Ausstellung kommt woanders hin.



    Hier irgendwo fängt der Zwergstaat an, die Kirchturm gehört wohl schon dazu.



    In der Kirche ist auch keiner den man fragen könnte.



    Vom Zeitschriftenladen zum Rathaus,


    das geschlossen ist,


    bis zu einem Schulbuchladen, der auch zu hat (Mittagspause).
    In einer Metzgerei werde ich immerhin auf ein benachbartes Hotel hingewiesen, das auch eine Touristeninformation hat.
    Die gute Frau dort ist zwar ortsfremd, aber sie verkauft mir eine Broschüre, in der das Wesentliche drin steht.
    Gemeisam beugen wir uns über die Karte, und siehe da .
    - wir stehen mittendrin, im ehemaligen Zwergstaat.




    Im Hintergrund das Hotel (hellgrün), vorn die ehemalige Bergwerksdirektorvilla.


    Ein Stück weiter unten haben wir die ehemalige südliche "Staatsgrenze", die Hauptstraße von Aschen nach Lüttich (Lütticher Straße), links der Freistaat, rechts damals preussisches Gebiet.



    Ob die Grenze in der Straßenmitte verlief, oder am rechten oder linken Rand, kann mir keiner sagen.


    Heute gehört alles zur deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien.


    Jede Stunde fährt ein Bus von Kelmis nach Vaals, über das Drei- bzw. Vierländereck. Die Fahrerin kurbelt über Serpentinen den Berg hoch, auf der anderen Seite stehen irgendwann Autos mit gelb-schwarzen niederländischen statt mit weiss-roten Nummernschildern vor den Häusern, als einzigem Hinweis dass wir wieder mal die Grenze gewechselt haben.

    Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt - sieh sie Dir an (Kurt Tucholsky)

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  • Was es nicht alles gibt/ gab.
    Welchen Eindruck hast Du von dieser Region? Wie geht es den Menschen?



    Hegen die Menschn dort auch Unabhängigkeitsgedanken??


    Gruß,
    Elke

  • Ich war nur ein paar Stunden dort, hatte aber nicht den Eindruck, dass die Leute unzufrieden sind, hab auch keine Aufkleber mit entsprechenden Parolen gefunden. Die deutschen Bewohner Ostbelgiens haben ja Sonderrechte (siehe Link oben), die sie woanders nicht hätten. Und die Gruppe ist mit 60.000 Menschen zu klein, um als unabhängiger Staat irgendetwas darzustellen, das ist bei den Wallonen u.v.a. Flamen (die lauteren Unabhängigkeitsbefürworter) anders. Irgendwo hab ich von einer Petition aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg gelesen, wo die Bewohner des Freistaats erklärten, im Fall einer Auflösung (was bei Erschöpfung der Zinkvorräte schnell der Fall sein konnte) an Belgien angeschlossen werden wollten. Deutsch hätte damals Preussen bedeutet, und die waren in der Region offensichtlich nicht so beliebt.


    An den Zwergstaat erinnern sich viele nicht mehr, selbst unmittelbar in Kelmis nicht - ich hatte ja große Schwierigkeiten, vor Ort überhaupt irgendwelche Infos daüber aufzutreiben. Irgendwann 2019 oder 2020 wird es einen 100. Jahrestag geben, seit dem die Region zu Belgien gehört. Vielleicht gibt's dann eine Feierlichkeit oder ähnliches, bei der man mehr erfährt. Am 26.6.2016 gab es zum 200. Jahrestag der "Unabhängigkeit" ein Straßenfest, mehr hier:
    https://kelmis.be/de/ , ein bissl runterscrollen und dann rechts bei Kelmis Aktuell 02/2016 klicken. Dort findet Ihr zu Beginn der aktuellen Meldungen eine längere Abhandlung über den ehemaligen Freistaat.


    Noch ein Kuriosum:
    Ab 1907 gab es eine Gruppe von Esperanto-Anhängern, die aus Neutral-Moresnet einen Esperanto-Staat mit Namen Amikejo (Esperanto für Ort der Freunde) bilden wollte. Wilhelm Molly († 1919), der Chefarzt der Erzgrube, versuchte vergeblich, in Neutral-Moresnet den ersten Esperanto-Staat der Welt auszurufen (Wikipedia).

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