Die Flüchtlinge und ihre Betreuung

  • Jofina, nur eine meiner Erwachsenen kann Englisch. Sie war in Damaskus Englischlehrerin.


    Für sie bereite ich immer etwas anspruchsvolleres Material vor , sie übt auch fleißig auf ihrem Smartphone mit ihren apps "Ankommen" und "Willkommens ABC" (kostenlos - auch akustisch - über Google Play - wäre auch etwas für Deine mex. Nachbarin) Eine feine Sache.


    Bei den Kindern habe ich nicht den Eindruck, dass sie Englisch gelernt haben.
    Für sie sind ( sowohl bei denen aus Syrien ( arabisch) als auch bei jenen aus dem Irak und aus Afghanistan ( Dari / Farsi) bereits das lateinische Alphabet und die lat. Schriftzeichen "Neuland".


    Liebe Grüße,
    Elke

  • Elke, meine Hochachtung vor Deinem persönlichen Einsatz beim Sprachunterricht.
    Ich stelle mir das wirklich nicht einfach vor, jeden Unterrichtstag andere/neue Teilnehmer mit unterschiedlichsten Voraussetzungen vorzufinden.
    Eigentlich fängst Du jeden Tag auf Null an.
    Ich wünsche Dir ganz viel Kraft und vor allem Idealismus, um das weiterhin so durchzuziehen.


    Liebe Grüße
    Helga

  • Liebe Elke,
    toll wie Du das machst.
    Hast Du eigentlich Kontakt zu anderen Deutschlehrer/innen in ähnlicher Lage ?
    Wenn Du willst, könnte ich Dir, auch wenn nur per Telefon oder Mail, Dich mit meiner Kroatischlehrerin, die zeitweise auch Deutsch für Flüchtlinge unterrichtet, herstellen.
    Liebe Grüße,
    Ernst.


    PS

    Zitat

    Was die Männer betrifft, so habe ich von anderen Ehrenamtlichen erfahren, dass die es oft nicht so genau nehmen mit dem Unterrichtsbesuch , mal kommen, mal nicht, mal ist es zu kalt, mal regnet es....


    Ich hab davon auch gehört.
    Allerdings hat das manchmal auch andere Ursachen, zB wenn die Leute traumatisiert sind - oder einfach Analphabeten, und sie sich schämen das zu sagen.
    Es wär natürlich zweckmäßig, wenn das irgendjemand herausbekommt und Dich informiert.

    Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt - sieh sie Dir an (Kurt Tucholsky)

  • Danke, Grizzly, für das Angebot.
    Der Unterricht selbst bereitet mir keine Probleme. ( Eher meine Erwartungen, die ich an den Erfolg meiner Bemühungen habe. Es war ja jahrezehntelang schließlich mein "Job")


    Es gibt im Internet auch so viele gute Hilfen und Anregungen
    ( z.B. https://www.deutschkurs-asylbewerber.de/ ( die Handreichungen sind gut, aber leider ist das Material sehr teuer - und es sind keine Mittel da :sad: ) oder die Tipps von SAP httpss://open.sap.com/courses/than1 )

    Es ist das "DRUMHERUM" - die schlechte Koordination und mangelnde Kooperation.
    Über die Flüchtlinge erfahren wir nichts- wenn wir Glück haben sagen sie selbst uns ihre Namen,.


    Aber man muss vielleicht Geduld haben - die Erfahrungen hier am Ort mit Asylhilfe sind noch jung - erst seit Ende Dez.


    Wir sind beim Deutschunterricht eher "Einzelkämpfer"- jeder "wurschtelt "mehr oder weniger vor sich hin, mit sehr, sehr unterschiedlichen Vorstellungen.
    Und -ich habe es ja schon geschrieben - die Bedingungen für Unterricht ändern sich von Woche zu Woche - Man wird von Woche zu Woche mit Neuem und Neuen konfrontiert.


    Das wäre sicher anders, wenn ich in die festen Wohngruppen der Flüchtlinge gehen würde, die bereits eine Aufenthaltserlaubnis haben und in Häusern und Wohnungen untergebracht sind. Das gibt es auch.
    Vielleicht wechsle ich noch.


    Liebe Grüße,
    Ele

  • Zitat von Elke

    Das wäre sicher anders, wenn ich in die festen Wohngruppen der Flüchtlinge gehen würde, die bereits eine Aufenthaltserlaubnis haben und in Häusern und Wohnungen untergebracht sind. Das gibt es auch.
    Vielleicht wechsle ich noch.


    Das macht in meinen Augen auch Sinn, liebe Elke. Ich kann die Lage jetzt nur aus Recklinghausen schildern. In den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes NRW haben die Bewohner eine "Rund-um-Versorgung". Erst wenn sie als Asylbewerber anerkannt sind, damit der Kommune zugeteilt werden und in Containern, Heimen (die Flüchtlinge sagen immer Camp) oder Wohnungen untergebracht sind, müssen sie sich selbst versorgen. Das heißt, sie müssen vom Nachthemd über Kochtopf bis zur Kartoffel alles selbst besorgen und sich organisieren. Hier wird das Erlernen der Sprache unersetzlich.


    "Für viele ist das noch in weiter Ferne...Sie wissen ja noch gar nicht , was die nächsten Wochen bringen", so hattest du es in #154 geschrieben. Das ist sicherlich richtig. Die Flüchtlinge sind in den Erstaufnahmeeinrichtungen noch nicht in ihrem zukünftigen "daheim" angekommen. Sie wissen oft nicht, was der nächste Tag bringt. Ich kann mir vorstellen, dass in dieser Situation ein Sprachkurs lediglich als eine Abwechslung vom Tagesgeschehen gesehen wird.


    Ich habe von einer Lehrerin in RE gelesen, die den Deutschkurs u. a. anhand von Werbeprospekten gestaltet: 1 Kilogramm Kartoffeln, eine Dose Bohnen, ein Glas Kraut, ein Beutel Reis usw., praxisgerecht halt.


    Lieben Gruß und weiterhin gutes Gelingen,
    Klaus


    PS: Momentan überlege ich, ob ich einer Empfehlung folge, mich gegen Hepatitis A/B impfen zu lassen. Irgendwie habe ich aber was mit Hepatitis im Blut und so hatte man mir zur Bundeswehrzeite Zusatzeinnahmen und Freischichten verwehrt. ;) Wie haltet ihr das?

  • Wg Hepatitis:
    Ich würde erstmal einen Bluttest auf Antikörper machen, vielleicht braucht es dann die Impfung nicht.
    Hep. A überträgt sich wie ein Magen-Darm-Infekt ; die meisten vor 1949 Geborenen in D haben die irgendwann durchgemacht und brauchen keine Impfung. B überträgt sich durch Spritzen- oder Geschlechtskontakt, auch einfache Stichverletzungen reichen dafür. B ist infektiöser als A.
    Mann kann sowohl gegen A und B einzeln als auch kombiniert impfen.
    Ich bin gegen A geimpft, B hab ich mir irgendwann mal ohne es zu merken wohl im Krankenhaus geholt ( als Krankenpfleger pickst man sich ja immer mal).

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  • @Klaus

    Zitat

    Ich habe von einer Lehrerin in RE gelesen, die den Deutschkurs u. a. anhand von Werbeprospekten gestaltet: 1 Kilogramm Kartoffeln, eine Dose Bohnen, ein Glas Kraut, ein Beutel Reis usw., praxisgerecht halt.


    Das finde ich eine richtig gute, kreative und praxisnahe Idee!


    Liebe Grüße
    Helga

  • Jetzt muss ich grinsen...
    ich habe an meinem Briefkasten stehen: Bitte keine Werbung..
    und bettle jedoch seit 4 Wochen bei meiner Nachbarin um die bunten Werbeprospekte, die ins Haus flattern oder in den Zeitungen sind.


    Daraus gibt es dann Bilderserien ( ausgeschnitten und auf Karteikarten geklebt) zu Themen wie: Obst, Gemüse, Nahrungsmittel wie Brot, Nudeln, Gebäck .. zur Zeit gibt es viele Prospekt mit Bekleidung usw... da gibt es so viele Möglichkeiten, selbst Material herzustellen für Wortschatzübungen, für Memory, für Bingo, Domino usw....
    Wenn etwas fehlt, was ich wichtig finde, dann drucke ich es mir an meinem PC aus . (z.B. Körperteile wie Nase, Hand, Fuß, Ohr....)
    Aber ich arbeite nicht nur mit Bildern.... oft schleppe ich einen Korb mit realen Dingen mit ( Äpfel, Bananen, Zucker, Salz.... .usw. ) Damit kann man sehr schön einkaufen spielen.
    An Ideen mangelt es mir nicht - wenn nur Verlass wäre, dass die Flüchtlinge tatsächlich kommen ( bzw sich abholen lassen - es ist unmöglich, in einer Halle mit 270 Personen zu suchen - ich respektiere die ohnehin geringe Privatsphäre und schaue nicht hinter die Vorhänge)


    #160

    Zitat von Vadda

    Ich kann mir vorstellen, dass in dieser Situation ein Sprachkurs lediglich als eine Abwechslung vom Tagesgeschehen gesehen wird.


    Ja, so ist es bei vielen ( nicht bei allen)
    Vor allem versuchen Mütter ihre kleinen Kinder (unbegleitet) mitzuschicken. Ich kann es ja verstehen- einfach mal Ruhe haben...
    Aber es gibt ja jeden Nachmittag Spiel- und Sportgruppen, wo die Kinder abgeholt und zurückgebracht werden.
    Dafür gibt es einen extra Helferkreis, der das organisiert.


    Morgen gibt es endlich ein Treffen mit den Hauptamtlichen der Halle. Mal sehen , ob eine Lösung für die Organisation des Deutschunterrichts für die Hallenbewohner (sie nennen es "Camp") gefunden wird.
    Wenn nicht, werde ich wechseln zum Helferkreis "Deutsch" , die in die festen Unterkünfte zu festen Gruppen gehen.
    Da besteht auch Bedarf.


    Liebe Grüße,
    Elke

  • Zitat

    Hallenbewohner (sie nennen es "Camp")


    Der Ausdruck hat sich bei Arabischsprachigen wie Afghanen eingebürgert. Spricht sich auch einfacher aus als "Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung" oder "Zea" im Behördendeutsch.



    3.2.16
    Ein Norderstedter hat mir eine Bargeldspende in die Hand gedrückt, "für Ihren Laden". Die kam heute einer Frau zugute, deren Kopf schon blutig gekratzt war, und nicht nur ihr - ein kleiner Vorrat an Läusemittein kann nichts schaden.


    Personell sind wir heute gut dabei; Zarife ist unterwegs, aber dafür haben wir eine frischgebackene Hamburger Ärztin, die erstmal "mitläuft", sowie einen syrischen und eine afghanische Assistentin. Die erkennt auch schneller als ich, warum der alleinreisende Bub, der zu seinem Onkel nach Schweden will (trotz der aktuellen Grenzschikanen mit gewissen Einreisechancen, als Minderjähriger) seine Magenbeschwerden immer abends hat: Wo er herkommt, gibts keine Schokolade und ähnliches, hier haut er sich die Betthupferl rein bis nix mehr geht. Dann legt er sich hin, und die Magensäure kommt hoch ...
    Wir versuchen, ihm das Problem zu erklären, und das wird schwierig. Schon auf die Frage, wie alt er ist, antwortet er mit "drei". Nicht um uns zu täuschen, sondern weil es für den etwas Zwölfjährigen und andere aus seinem Kulturkreis oft keine Rolle spielt - ich kenne das von meinem Krankenhauspraktikum in Tansania, wo auf den meisten Krankenblättern Age: adult stand. Wahrscheinlich hat er auch jahrelang keine Schule mehr gesehen.


    Der nächste, ein junger Syrer, möchte eine Vitaminspritze. Im Gegensatz zu meistens haben wir sogar eine, aber ich will schon den Grund wissen. Nach einer Weile kommt heraus, das er in den Füßen mal Schmerzen hat und sie dann wieder gar nicht spürt. Offensichtliche Ursache: Er war drei Monate in einem Assad-Knast, wo er in einer engen Zelle auf dem Boden hocken musste - da kann man schon Nervenschäden und dauerhaft Missempfindungen in den Beinen bekommen. Und dagegen kann Vitamin B12 vorübergehend helfen.


    Danach bin ich froh, bald Feierabend zu haben.

    Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt - sieh sie Dir an (Kurt Tucholsky)

  • Danke , Klaus, für den Tipp per PN auf eine Sendung, die am 10.2.16 im WDR ausgestrahlt wurde.

    "Der Dokumentarfilm „My Escape / Meine Flucht“ ist eine Montage aus (Handy-)Videos von Flüchtlingen, die ihre lebensgefährliche Flucht nach Deutschland selbst kommentieren. Der Film lässt die Flüchtlinge selbst sprechen: Sie kommentieren ihr Filmmaterial. So entsteht ein eindrückliches Bild aus nächster Nähe, von Menschen, deren Verzweiflung sie nach Europa treibt – ungeachtet aller Gefahren."


    My Escape/Meine Flucht


    Ich habe die Dokumentation angeschaut - es ist einfach unbeschreiblich was viele Flüchtlinge hinter sich haben.
    Ich möchte den Link zur Mediathek des WDR (s.o.) hier einstellen, vielleicht möchte der eine andere in das Video reinschauen.


    Zur Zeit begegne ich mehrmals in der Woche Flüchtlingen ( vor allem Kindern) aus Irak, Afghanistan und Syrien .
    Über die Erlebnisse bei der Flucht spricht kaum jemand - dafür reichen die Sprachkenntnisse noch nicht, vermutlich geht das auch erst wenn mehr Vertrauen aufgebaut wurde. Die Zeit, die sie hier in der Erstaufnahme verbringen, ist dafür zu kurz.


    Aber ich frage mich immer wieder: Welches Schicksal hat jeder von ihnen hinter sich?


    Elke


  • Aber ich frage mich immer wieder: Welches Schicksal hat jeder von ihnen hinter sich?


    Das zu erfragen, liebe Elke, ist auch unabhängig von der Sprachbarriere nicht immer einfach, siehe Ende meines heutigen Postings:



    9.2.2016
    Mein kürzlich verstorbener Vater hat, so lang er das konnte, Flüchtlinge mitversorgt, zuletzt zwei iranische Familien. Deshalb wird er sich, wenn er mir noch von irgendwoher zuschauen könnte, freuen, dass sein "Wagerl" (den Ausdruck "Rollator" mochte er gar nicht) mit irgendeinem Flüchtling weiter fährt. Zumal es mit seiner Linkshandbremse (da rechte Hand gelähmt, nach Verwundung) eine Sonderanfertigung ist. Aber zuerst einmal muss das gute Stück auf die Bahn verladen werden, und das ist ein kleines Abenteuer.


    Bis zum Bahnhof ist das ja unproblematisch. Man kann sein Gepäck damit transportieren,

    wie früher den Einkauf ...
    "bringst 'an Kast'n Bier mit, nimmst mei' Wagerl" (13.8.2013)


    Aber auch wenn ich es noch selbst durch die liftlose Kitzinger Bahninterführung schleppen kann,


    möchte ich doch wissen, was wäre wenn nicht.
    Am Bahnschalter erfahre ich, dass ich telefonisch einen Tag vorher den Zug auf das Gleis direkt vorm Bahnhof umdirigieren hätte können, aber dazu ist es jetzt zu spät. Für den ICE-Knotenbahnhof Würzburg (kein Aufzug, keine Rolltreppen) hat die gute Dame keinen Tipp - aber ich.



    Das Zauberwort heisst "kein Ausgang" und befindet sich im Abschnitt E eines jeden Bahnsteigs dort, offiziell ist es wohl eine Rampe für Versorgungsfahrzeuge. Aber natürlich kann auch jeder Rollstuhlfahrer so das Gleis wechseln, es steht bloß nirgends.


    Im ICE blockiert das Wagerl entweder den Durchgang oder, zusammengeklappt, kippt um. Zum Glück ist der Zug nicht voll, so kann ich es auf einem Sitzplatz parken. Nett immerhin, dass ich an jeder Stufe Hilfe angeboten bekomme, vom Bahnpersonal oder von anderen Reisenden.

    In Hamburg gibt's keine Hürde mehr.


    Im Bieberhaus ist es wie fast immer: Wenn ich "ausser der Reihe" komme, gibt's Arbeit. Der erste Teil des Problems ist noch einfach, nämlich die von oben bis unten mit Klebeband stabilisierte Gehstütze des Rückenschmerzen-geplagten Afghanen zu ersetzen:
    Da haben wir freie Auswahl


    Sein nächstes Problem: Immer wieder, seit vor zwei Jahren sein Bruder spurlos verschwunden ist, bekommt der Mann Muskelkrämpfe und Luftnot, meistens bei Stress. Die Untersuchung ergibt die wahrscheinliche Diagnose Hyperventilationstetanie, das ist eine zeitweiliger Änderung des Mineralgehaltes im Blut durch die Überatmung. Medizisch harmlos, von den Patienten als dramatisch erlebt. Meistens, insbesondere wenn die Betroffenen nicht grad akut diese Beschwerden haben, genügt es, ihnen das Problem zu erklären, was ich über den Dolmetscher auch versuche. Medikamente brauche es meistens nicht, sicherheitshalber sollte der Mann bei Gelegenheit neurologisch untersucht werden, was ich auf meinem Kurzbefundbericht vermerke. Dann erklärt er, im Akutfall doch über ein Medikament zu verfügen, und zieht eine Tablettendose aus der Tasche: Aufschrift Warfarin.
    Das ist für mich einigermaßen überraschend, verwenden wir dieses Medikament - oder das ähnliche Marcumar - hier nie als Bedarfstherapie, sondern nur bei schweren Durchblutungsstörungen wzB nach Thrombosen oder bei unregelmäßigem Herzschlag - und dann als Dauertherapie mit regelmäßigen Laborkontrollen, zur Vermeidung von Blutungen. Habibeh wiederum kennt das - im Iran sei das die übliche Behandlung dieses Problems.
    Andere Länder, andere Sitten, auch in der Medizin.


    12.2.2016
    Heut ist offensichtlich afghanischer Mädchentag. Die jüngste, die ohne ihre Mutter herein kommt (die schläft irgendwo auf der Etage), ist sieben. Gut, dass meine Assistentin Zarife da ist, selber erst zwanzig, aber flucht- und medizinerfahren. Behutsam und trotzdem bestimmt geht sie auf die jungen Patientinnen ein.


    Zwei Schwestern, 14 und 18, haben Zahnprobleme und trauen sich nicht zum Zahnarzt aus Angst, dass er ihnen die Zähne zieht, einer ist schon weg. Ich schreibe ihnen einen Zettel, dass Zahnbehandlung dringlich aber eine Zahnextraktion keinesfalls erwünscht ist - im Gegensatz zu den bräunlichen Bruch, den ich schon öfter gesehen habe, sehen diese Zähne gut aus. Vielleicht Calcium- oder Vitaminmangel ? Freitagmittag erwische ich weder Internisten noch Zahnärzte, das Zahnmobil


    wie die Zahnärzte in der "Praxis ohne Grenzen" sind erst am Mittwoch wieder erreichbar. So bleiben Schmerztabletten, bei der einen Antibiotika und die Empfehlung, am Montag wieder zu kommen - die Reisepapiere für Schweden werden eh ein paar Tage auf sich warten lassen.


    Dann haben wir noch mal das Thema Hyperventilationstetanie, diesmal bei einer Achtzehnjährigen. Auch hier ist der Zusammenhang mit Stress eindeutig, und ich frage sie, ob sie auf der Flucht Schlimmes erlebt hat. Da bricht sie in Tränen aus und berichtet, wie sie von türkischen Polizisten einen Hügel hinuntergestoßen worden ist.
    Sie will hierbleiben, ich schreib ihr einen Arztbrief mit der Verdachtsdiagnose Posttraumatische Belastungsstörung und der Empfehlung einer baldigen Traumatherapie, in der Hoffnung dass das irgendwas bringt. Weiter nachfragen möchte ich nicht, um keine "Flash-backs" zu provozieren, eingedenk der Mahnung meiner früheren Psychosomatik-Chefin aus Bad Wildungen, Ingrid Olbricht:
    Reiss keinen Bauch auf, wenn Du nicht weisst, wie Du ihn wieder zukriegst.

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  • 15.2.: Abenteuerreise nach Norderstedt-Mitte


    Heut war wieder die afghanische Großfamilie da, die auf Dokumente wartet, um doch noch nach Schweden weiter reisen zu können. Das vier Monate alte Baby hustet noch immer, wobei es ansonsten topfit und quietschfidel ist. Wobei die Mutter "beiläufig" berichtet, dass vor vier Wochen ein iranischer oder türkischer Grenzsoldat den Mann erschossen hat, bei dem der Kleine grad auf dem Schoß saß ... Das Baby war voll mit Blut und Splittern, habe aber sonst nichtsabgekriegt. Ob der Husten damit etwas zu tun hat ? Ich glaub's nicht, aber ausschliessen kann ich es nicht, und etwas daran machen könnte man jetzt auch nicht mehr. Das volle Programm Asthmatherapie hat meine Kollegin schon veranlasst.


    Die Zahnschmerzen der 14jährigen haben seit Freitag noch zugenommen, deshalb veranlasse ich einen Termin bei einem Zahnarzt, der das noch heute und umsonst macht. Da meine diesbezüglichen Kontakte in Norderstedt d.h. eine dreiviertel U-Bahn-Stunde vom Hauptbahnhof entfernt liegen, organisiere ich auch gleich eine Blutentnahme in meiner benachbarten alten Praxis. Zarife kann nicht mitfahren, da Amtstermin, so bring ich die Schwestern allein hin.
    Für die ist das eine Abenteuerreise, sie sind noch nie U-Bahn gefahren. Mit großen Augen hängen sie am Fenster, vor allem als ich einen kleinen Umweg an den Landungsbrücken vorbei mache, wo man eine Weile oberirdisch fährt und den Hafen sehen kann.


    Der Zahnarzt nimmt die 14jährige, die die ärgeren Schmerzen hat, gleich dran - da nicht versichert und keine Rechnung, entfällt die aufwendige Computerdokumentation. Die Zähne schauen gepflegt aus (kein Vergleich mit dem Bruch, den ich bei anderen Flüchtlingen gesehen hab), lediglich einer hat ein Loch, was die Schmerzen erklärt. Der Zahnarzt sagt auf Deutsch, was er macht ("jetzt gebe ich eine Schmerzspritze"), ich geb's in den Google-Übersetzer ein und zeige den in arabisch geschriebenen Text der Schwester, die das übersetzt. Der Zahn wird ausgebohrt und gefüllt, das Mädchen macht keinen Mucks. Wahrscheinlich hat sie schon Schlimmeres erlebt (ein Backenzahn ist im Iran nach Vorbehandlung gezogen worden).


    Die 18jährige Schwester bekommt für den nächsten Tag einen Termin. Da der Zahnarzt erklärt hat, dass es aus seiner Sicht keine Blutentnahme braucht, treten wir die Rückfahrt zu Hauptbahnhof an. Unterwegs will mir die Große etwas erklären, der Googleübersetzer ist keine Hilfe, schliesslich rufe ich eine meiner Telefondolmetscherinnen an. Ergebnis: Sie habe gar keine Zahnprobleme, aber wahrscheinlich einen Eisenmangel, ihr würde dauernd schwindlig, und sie wolle doch eine Blutentnahme.
    Klare Ansage - bemerkenswert, dass eine 18jährige aus Afghanistan, die nur ein paar Brocken Englisch spricht, diesen Zusammenhang kennt. Man darf seine Patientinnen nicht unterschätzen ! Also wieder kehrt, nach Norderstedt-Mitte, Zahnarzttermin absagen und in meiner alten Praxis Blut abnehmen. Ich hab schon im Vorfeld abgelärt, dass das Labor die Kontrolle ohne Rechnung macht - das größte Problem hat meine Mitarbeiterin mit der Eingabe in den Praxiscomputer, ohne den die Probe nicht rausgehen kann. Also denken wir uns ein Geburtsdatum aus, und eine Adresse: Heidi-Kabel-Platz 2, 20099 Hamburg.


    Und schon sitzen wir wieder in der U-Bahn. Nachdem ich über die Dolmetscherin hab fragen lassen, ob die beiden Lust hätten an den Landungsbrücken kurz auszusteigen, machen wir das. Die Mädchen sind beeindruckt. Allerdings kommen der Großen beim Heranpflügen einer Hafenfähre auch Fluchterinnerungen: "Big ship", sagt sie, und dann "Small ship Turkiye - Junan", sie meint die Überfahrt Türkei-Griechenland, macht die Wellenbewegungen nach und dass sie fürchterlich gekotzt hat.
    Bevor ich die beiden wieder bei ihrer Familie abliefere, machen wir am Hafen noch ein paar Erinnerungsphotos, auf ihren ausdrücklichen Wunsch auch mit mir zusammen. Die Bilder muss ich Euch leider vorenthalten, weil die Mädchen, selbst wenn sie zugestimmt hätten, nicht absehen können, was eine Veröffentlichung im Internet für Folgen haben könnte.

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  • Toll Grizzly, dass Du extra für die Mädchen den kleinen Umweg über die Hafenstrecke der U3 genommen hast, um ihnen ein Stück Hamburg zu zeigen. Das sind die ganz ganz kleinen Dinge, die doch so wichtig sind.
    Gute Idee mit der ausgedachten Adresse. Habe ich auch schon benutzt (wenn auch nicht dieselbe, aber doch eine existierende), um eine deutsche SIM-Karte freischalten zu lassen. :mrgreen:


    Liebe Grüße
    Helga

  • Zitat

    Diese ganze Flüchtlingsbetreuung ist ja auch für mich eine emotionale Achterbahn.


    Grizzly- Du bekommst bei Deiner Arbeit mehr von den Einzelschicksalen mit als wir hier beim Deutschunterricht für die Aysylanten in der Erstaufnahmeeinrichtung.
    Für mich ist es im Moment mehr eine motivationale Achterbahn.


    Ich kann in keiner Unterrichtstunde damt rechnen, dass diejenigen kommen, die sich dafür eingetragen haben.
    Gründe gibt es genügend.
    Wenn es die Fahrt zur Asylantragsstelle ist , Krankheit, Verhinderung, weil das Kleinkind krank ist .... usw, habe ich Verständnis.
    Aber : der Weg ist zu weit, keine Lust, es regnet, es ist zu kalt....da ist es schwer, Verständnis aufzubringen ( zumal es den Flüchtlingen im Camp meist langweilig ist)
    Wir dürfen keine Kinder ohne Begleitung mitnehmen - es sind 2 Straßen ( mit Ampel) und eine Bahnlinie zu überqueren.
    Ich würde gerne ganze Familien in meinem Deutschkurs haben - selbst Kleinkinder dürfen sie mitbringen- aber sehr viele Frauen und Männer haben keinerlei Interesse , Deutsch zu lernen.
    Wir bieten ca 15 elementare Deutschkurse an - die meisten sind nur schwach besucht ( obwohl die Asylanten sich namentlich eingetragen haben)


    Viel Aufwand - wenig Ergebnisse.
    Das nagt an meiner Motivation.


    Ich habe 10 Plätze- heute waren 2 Syrer da (eine sehr interessierte Mutter mit ihrem intelligenten und sehr eifrigen 11 jährigen Sohn) Es hat großen Spaß gemacht mit ihnen.


    "Meine" 4 Afghanen durften heute nicht kommen - die Polizei war in der Halle - es gab offensichtlich eine Schlägerei , bei der sie beteiligt waren.


    Für eine Arbeit, die mehr sein soll als nur Zeitvertreib für die Flüchtlinge, ist mir das alles zu wenig.
    Ich muss mir überlegen was und wie und ob ich weitermache.


    Vielleicht wechsle ich in das Team Deutsch für die Asylbewerber, die bereits hier im Ort in festen Unterkünften ( Häusern) untergebracht sind.
    Mal sehn...


    Gruß,
    Elke

    Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt - sieh sie Dir an (Kurt Tucholsky)

  • Mir ist ein großer Fehler unterlaufen - entschuldige Grizzly!!


    Du hast von Deinen Asylanten berichtet, wie Du von ihren Schicksalen erfährst, Anteil nimmst-
    von der 18Jährigen, der Du Eisenpräparate besorgen konntest und von Deinen eigenen unangenehmen Erinnerungen an eine Mandel OP als 7Jähriger...


    Ich wollte den ersten Satz mit der Achterbahn zitieren und habe aus Versehen auf "Bearbeiten" gedrückt, ohne es zu bemerken.
    Das tut mir Leid.
    Aber ich kann es leider nicht rückgängig machen.
    Jetzt steht mein Beitrag unter Deinem Namen.


    Hast Du zufällig noch eine Kopie dessen, was Du für uns in #169 geschrieben hattest?


    Liebe Grüße,
    Elke

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